„Es ist fraglich, ob wir in Deutschland die Tragweite des geschichtlichen Umbruchs voll verstanden haben“. Mit diesen Worten resümierte Professor Dr. Ulrich Schlie zum Ende des 15. Webinars der Görres-Gesellschaft, das am Dienstag, dem 21. Februar 2023 stattfand, seine Ausführungen zur „Zeitenwende“ und den Herausforderungen für die europäische und globale Sicherheitsarchitektur angesichts des Jahrestages des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Ulrich Schlie und sein Kollege Professor Dr. Thomas Weber von der Universität in Aberdeen widmeten sich im Webinar zunächst dem Satus quo des Krieges. Beide betonten die Einheit des Westens, mit der Wladimir Putin nicht gerechnet habe. Er sei der strategische Verlierer des Krieges. Thomas Weber, der sich in Kanada und den USA zu Forschungszwecken aufhält, berichtete von der breiten gesellschaftlichen Unterstützung der Ukraine. Eine baldige militärische Entscheidung – noch in diesem oder nächsten Jahr - sei laut Ulrich Schlie nicht zu erwarten, auch eine politische Lösung sei nicht in Sicht. Thomas Weber richtete einen eher skeptischen Blick auf die militärische Lage. Die westlichen Arsenale leerten sich zusehends, ohne dass massiv nachproduziert würde.
In globaler Perspektive bestünden Chancen für eine Einhegung von Gewalt, dafür jedoch müssten der Westen und der Süden entscheidende Weichenstellungen vornehmen. China sei der große Profiteur des Krieges, seine Friedensinitiative wurde jedoch skeptisch beurteilt, in erster Linie richte sie sich an die Länder des globalen Südens.
In einer abschließenden Betrachtung widmete sich Ulrich Schlie der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“. Das in Deutschland auf Konsens angelegte politische System gehe mit einer sehr geringen Veränderungsbereitschaft einher. Diese würde letztlich nur dann erreicht, wenn sie von außen aufgezwungen würde. „Haben wir diesen Punkt schon erreicht? Haben wir wirklich erfasst, wie tiefgreifend die Veränderungen sind, die wir gerade erleben?“, fragte er zum Abschluss seiner Ausführungen.
Das Schlussstatement können Sie unten in der Bilderleiste abrufen. Die Aufzeichung des gesamten Webinars finden Sie im YouTube Kanal der Görres-Gesellschaft (hier).
Tagung im Kloster Banz zum Thema:
In engem thematischen Zusammenhang mit dem Webinar steht eine Tagung, die die Görres-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Hanns-Seidel-Stiftung vom 2. bis zum 4. Juni 2023 auf Kloster Banz durchführt. Wissenschaftlich geleitet wird die Tagung von Prof. Dr. Ulrich Schlie und Prof. Dr. Christoph Kampmann von der Universität Marburg. Sie steht unter dem Titel "Kriegschaos und Friedensordnung - Was wir aus der Geschichte lernen können". Sie richtet sich vornehmlich an jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Details hierzu, finden Sie hier, das Programm der Tagung hier.
Zu den Referenten des Abends:
Professor Dr. Ulrich Schlie ist Historiker und Universitätsprofessor. Er hat seit 2020 die Henry-Kissinger-Professur für Sicherheits- und Strategieforschung inne und ist Direktor des Centers for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) an der Universität Bonn. Zuvor gehörte er 27 Jahre dem deutschen Auswärtigen Dienst an und war u.a. von 2005-2014 zunächst Leiter Planungsstab und anschließend Politischer Direktor im Bundesministerium der Verteidigung.
Professor Dr. Thomas Weber ist Professor für Geschichte und internationale Politik an der University of Aberdeen. Er ist Visiting Fellow der Hoover Institution an der Stanford University und Associate Fellow des CASSIS an der Universität Bonn.