Die Gesellschaft

Nachrichten der Görres-Gesellschaft

12.10.23

Aufruf zu "Kultur des Dialogs" beim Webinar der Görres-Gesellschaft: „Wenn Christen in der Minderheit sind…“

Zu einer "Kultur des Dialogs" rief die Generalsekretärin des Katholischen Akademischen Ausländer-Dienstes (KAAD), Frau Dr. Nora Kalbarczyk, Papst Franziskus zitierend, am Ende eines eindrucksvollen, weltumspannenden 16. Görres-Webinars am Donnerstag, dem 12. Oktober 2023, auf. Die Veranstaltung führten Görres-Gesellschaft und KAAD gemeinsam durch.

Eine einleitende soziologische Perspektive trug zunächst Frau Professorin Dr. Esther-Maria Guggenmos, Religionswissenschaftlerin an der Universität Lund in Schweden bei. Ihr historischer Blick ließ erkennen, inwieweit kolonialgeschichtliche und nationalstaatliche Entwicklungszusammenhänge zentral für das Aufkommen des Minoritätenbegriffs waren, welcher dann auch im Bereich internationaler Politik und in Demokratisierungsdiskursen an Bedeutung gewann. In der UN-Charta und den internationalen Menschenrechtsgesetzen hätte der Minderheitenschutz seinen festen Platz. Dabei würden als Minderheiten indigene Völker und ganz allgemein ethnische, religiöse oder sprachliche Randgruppen innerhalb von Staaten gefasst. Trotzdem bleibe der Begriff ambivalent, weshalb weniger stigmatisierende Konzepte wie der des von Mitri Rahib ins Gespräch gebrachte Begriff des „citizenship“ gefragt seien. Gegenwärtige religionssoziologische Reflexionen nähmen aus dem gleichen Grund Minderheiten nicht als gegeben hin, sondern fokussierten auf Prozesse und Dynamiken, die zur Bildung von Minderheiten führen. So träten die lokalen, aber gerade auch globalen gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhänge in den Blick. Am Beispiel Asiens hob die Referentin hervor, wie zentral für das gesellschaftliche Wirken von christlichen Minderheiten die internationale Netzwerkbildung im Bereich der sozial-karitativen und der edukativen Arbeit sei. Aus der KAAD-Fachgruppe „Religion im Dialog“, die Frau Guggenmos leitet und die sich mit diesem Thema in der letzten Zeit intensiv auseinandergesetzt hat, zitierte sie abschließend eine theologische Reflexion, die die Rolle marginalisierter Randgruppen mit dem christlichen Selbstverständnis in Verbindung brachte. Weiterführende Informationen finden Sie in der entstehenden "Encyclopädie Religious Minorities Online" (hier).

In den nachfolgenden beiden Statements kamen Vertreter christlicher Minderheiten mit Beschreibungen ihrer Situation vor Ort zu Wort.

Zunächst stellte Rev. Prof. Dr. Mitri Raheb (Präsident Dar al-Kalima-Universität) aus Bethlehem die Situation von Christinnen und Christen im Nahen Osten vor (u.a. erwähnte er das Dokument „We Choose Abundant Life“, das Sie hier finden). Er erläuterte, dass die Palästinenser in eine „polarisierte Großwetterlage“ eingebunden sind. Er bezog sich dabei auf politische Großereignisse der vergangenen 20 Jahre, u.a. das Scheitern des Friedensprozesses Anfang der 2000er Jahre oder die Vertreibung von Christen aus Syrien. Die Bedrängungen im Alltag führten zu vielfachen Auswanderungen von palästinensischen Christen. In den vergangenen Jahren hätten die Attacken gegen Christen im Heiligen Land massiv zugenommen, beispielsweise ein Angriff auf die Dormitio Abtei in Jerusalem im Jahr 2022 (Bericht hier). Der Terror-Angriff der Hamas auf Zivilisten in Israel sowie der sich daran anschließende Krieg im Gaza-Streifen dieser Tage habe massive Auswirkungen auf die dort lebenden Christen, ungefähr 1.000 Menschen. So sei das christliche Viertel stark bombardiert worden (Bericht hier). 

Dennoch wollte Professor Raheb es nicht bei diesen negativen Einschätzungen bewenden lassen. Er zeigte sich optimistisch im Hinblick auf die Entwicklung einer kontextuellen Theologie durch junge palästinensische Theologinnen und Theologen. In Palästina arbeiteten des Weiteren 300 christliche Organisationen, die ein Drittel der Krankenversorgung in den besetzten Gebieten übernähmen (eine Untersuchung dazu finden Sie hier).

In der Folge stellte der aus New Delhi zugeschaltete Prof. Dr. Babu Thaliath (Professor and Chairperson, Centre of German Studies, Jawaharlal Nehru University, New Delhi) die Situation christliche Minderheiten in Indien vor. Die 26 Millionen Christen stellten nur einen Bevölkerungsanteil von 2,3 Prozent. Die Bevölkerungszusammensetzung in Indien sei außerordentlich divers, weshalb in Indien das Ziel einer „Diversity in Unity“ gesucht werde, zumindest in langen Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit. Seit rund zehn Jahren würde allerdings eine hindu-nationalistische Politik entwickelt, die die Identitätsfrage Indiens neu stelle. Damit einher gingen gewaltige Konflikte zwischen Ethnien und religiösen Entitäten. Als Beispiel nannte Professor Thaliath den im Mai dieses Jahres ausgebrochenen Konflikt im Bundesstaat Manipur (Hintergrund hier), der zwischen ethnischen Gruppen verlaufe, allerdings auch zwischen Hindus und Christen. So komplex sich die gesellschaftliche Situation Indiens darstelle, so komplex ist die Situation der Christen in Indien. In einigen Bundesstaaten wie Kerala und Goa stellten Christen auch ihrer Anzahl nach eine mit 19 bzw. 25 Prozent Bevölkerungsanteil bedeutende Glaubensgruppe dar, die allerdings z.B. in Kerala in 26 christliche Konfessionen zerfalle. Die im kommenden Jahr in Indien anstehenden Parlamentswahlen hält Professor Thaliath für entscheidend im Hinblick auf die Frage, wohin Indien sich grundsätzlich entwickle, ob sich die national-hinduistische Politik beispielsweise gegen ethnische und religiöse Minderheiten richten werde und damit auch die Christen in Indien bedrohe.

In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, wie radikal sich die internationale Politik und auch der Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten in den vergangenen Jahren geändert habe. Professorin Guggenmos hatte von einer nur wenige Jahre zurückliegenden Tagung berichtet, in der ein Gefühl des „Wir sind Minderheit - wie schön!“ entstanden sei. Dieser Tage sei ein globaler Ruck hin zu neuen Nationalismen und Unterdrückungsmechanismen von Minderheiten zu erkennen. Diesen gelte es eine „Kultur des Dialogs“ entgegen zu halten, so KAAD-Generalsekretärin Dr. Nora Kalbarczyk in ihrer Schlussbemerkung.

Die Görres-Gesellschaft dankt dem KAAD für die hervorragende Zusammenarbeit - wir freuen uns auf weitere gemeinsame Initiativen!

 

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